Der Weg zur Sonne

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Der Weg zur Sonne

MärchenWirkstatt
Veröffentlicht von Kolja in Märchen · 26 Juli 2016
 
Märchen aus China
 
Vor langer Zeit herrschten im Lande der Tschuang Finsternis und Kälte. Zwar wussten die Tschuang, dass es eine Sonne gibt, sie wussten auch, dass die Sonne im Osten aufgeht, doch niemand hatte die Sonne gesehen. Der Himmel war schwarz. Ein grausiges Leben war es. Die Menschen waren unsicher und wurden schlecht. Die wilden Tiere gingen um, und es war immer kalt. Das Leben war traurig.
 
Eines Tages waren die Weisen der Tschuang zusammengekommen. Da sagte einer: „Wagen wir es doch, schicken wir einen Boten zur Sonne, einen Boten, der die Sonne bittet, auch uns zu bescheinen!“ Die umstehenden Tschuang jubelten und klatschten. Da trat ein Mann in den Kreis der Weisen. „Schickt mich zur Sonne. Seht, ich bin schon sechzig Jahre alt und kann nicht mehr viel tun auf dem Feld. Gehen kann ich noch. Schickt mich!“ Die Weisen staunten.
 
Schon trat der nächste in den Kreis: „Geh, Alter, ich laufe noch einhundertsechzig Li am Tage. Ich bin schnell zurück. Schickt mich!“
 
Das hatten die Männer nicht erwartet. Nun drängten noch zwei junge Männer in den Kreis: „Geht, ihr Alten, wir sind schneller hin und zurück. Schickt uns zur Sonne!“ Die Weisen verständigten sich. Sie merkten nicht, dass ein Junge in den Kreis trat. Neun Jahre mochte er alt sein. Endlich wurden sie aufmerksam. „Denkt ihr, die Sonne ist nur vierzig oder fünfzig Jahre entfernt? Nein, die Sonne ist neunzig Jahre entfernt. Ich bin noch jung, ich kann die Sonne erreichen. Schickt mich!“
 
Mit offenem Mund schauten die Alten das Kind an. Sie nickten sich zu: „Er ist jung, er ist klug, er ist kräftig.“ Sie überlegten.
 
Da trat eine junge Frau in den Kreis. Sie hieß Malo. Zwanzig Jahre mochte sie alt sein. „Das Kind hat recht, die Sonne ist mehr als neunzig Jahre entfernt, und ein Neunzigjähriger kann nicht mehr gut laufen. Schickt mich zur Sonne. Ich fürchte mich nicht vor den wilden Tieren und den Schlangen. Ich kann gehen, und ich sage euch, ich halte durch, was auch kommen mag. Ja, schickt mich!“ Da ist es still, und alle starren die junge Frau an. Sie lächelt. „Ich bekomme ein Kind. Wenn ich nicht mehr weiter kann, wird dieses Kind die Sonne erreichen. Es wird sich vor ihr auf die Knie werfen und sie anflehen, unserem Volk Wärme und Licht zu senden. Schickt mich!“ Da haben die Weisen die Köpfe zusammengesteckt, haben sich beraten.
 
Sie haben Malo gewählt. „Geh du für uns alle zur Sonne und bitte sie, uns zu bescheinen. Und denke daran, wenn du ankommst, mach ein Feuer, ein Feuer, damit der ganze Himmel rot wird. Alle Tschuang sollen wissen, dass du angekommen bist.“ Malo geht, viele begleiten sie in den ersten Tagen. Es ist ein harter Weg für die junge Frau. Nach acht Monaten bringt sie ihr Kind zur Welt, einen Sohn. Sie muss ihn tragen. Dann trippelt er neben ihr her, und endlich gehen die beiden miteinander immer nach Osten. Über wie viele Berge müssen sie steigen, durch wie viele Täler hindurch! Durch Bäche und Sümpfe waten sie. Die Menschen geben ihnen zu essen, sie flechten ihnen neue Schuhe, sie geben ihnen einen Kittel, geleiten sie über die höchsten Bergspitzen. Sie setzen sie über die großen Flüsse nach Osten.
 
Nach siebzig Jahren kann sich Malo nicht mehr weiterschleppen. Sie ist am Ende ihrer Kraft. „Mein Kind, mein Sohn, nun geh du, wirf dich auf die Knie vor der Sonne und bitte sie, dass sie unserem Volk Licht und Wärme sendet. Und vergiss nicht, hörst du, mach ein Feuer, ein großes Feuer, dass der ganze Himmel rot wird, alle sollen sich freuen, dass du angekommen bist!“ Er geht und geht immer weiter nach Osten.
 
Im Land der Tschuang werden Wachen aufgestellt. Sie wollen das Rot am Himmel morgens nicht verpassen. Aber der Himmel ist nicht rot geworden. Schwarz ist er wie immer. Die Menschen werden schlechter, die Tiere wilder. Ein schauriges Leben ist es. Vor allen Dingen aber haben die Tschuang keine Hoffnung mehr. „Malo ist umgekommen. Für uns gibt es kein Licht, keine Wärme.“ So sprechen sie täglich. Hoffnungslos sind sie.
 
Da, eines Morgens schlagen die Wächter auf die Trommel. Die Tschuang stürzen aus den Hütten und schauen gen Osten. Ein roter Streifen ist zu sehen, und ehe sie es begreifen, ist der ganze Himmel dunkelrot. Stumm staunen sie mit offenem Mund. Und schon verschwindet das Rot, und der helle Himmel kommt zum Vorschein. Noch nie haben sie einen hellen Himmel gesehen. Die Tränen laufen ihnen herunter. Sie können nur flüstern: „Malo ist zur Sonne gekommen!“
 
Dann aber steigt ganz langsam der große goldene Ball der Sonne am Himmel auf. Atemlos schauen die Menschen zu. Dann fallen sie sich um den Hals. Sie weinen, und sie lachen. „Malo ist zur Sonne gekommen!“ Sie spüren die Wärme, sie halten die Hände vor die Augen und jubeln.
 
Seitdem ist es ein gutes Leben im Land der Tschuang. Die Menschen leben im Licht, sie leben in der Wärme. Die Bauern gehen ganz früh auf die Felder, immer wollen sie die Sonne heraufkommen sehen. Sie kehren erst heim, wenn die Sonne verschwunden ist. Immer denken sie an Malo und ihr Kind, an die beiden, die für sie alle den harten Weg zur Sonne gegangen sind, die ihnen ein Leben in der Wärme und im Licht geschenkt haben. Weil sie diese beiden nicht vergessen haben, scheint noch heute die Sonne im Land der Tschuang.
 
 
Quelle: Gertrud Hempel erzählt Volksmärchen. Frankfurt am Main: Wilfried Nold.
 
1999. S. 118-120.
 
[Newsletter 2013-3, 17.12. 2013]


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