Das Messer gegen die Welle

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Das Messer gegen die Welle

MärchenWirkstatt
Veröffentlicht von Kolja in Märchen · 16 Juli 2019
Geschichte aus Irland
Schon in alten irischen Geschichten wird vom Königreich unter  den Wellen erzählt, dessen Königin sich in einen Menschenmann verliebt und ihn zu sich ruft. Bis heute gibt es in Irland  zahlreiche Varianten zu der folgenden Erzählung, die sich wieder überall, auch im Pub, erzählen lässt.
Zur Aussprache: Seimin Ruad = Schehmihn Ruha (roter Jimmy);
Baile Mor = Bali Mohr.

In Balle Mor lebte einst ein stattlicher Mann, Seimin Ruad. Seimin war Fischer, hatte ein gutes Boot und eine tüchtige Mannschaft, und oft fuhren sie hinaus zu den Fischgründen in der Bucht von Donegal. Sie hatten auch schon viele Stürme gemeistert, aber einmal gerieten sie in ein Unwetter, wie sie es noch nie erlebt hatten. Schlagartig wurde es dunkel, ein Sturm brach los, die See tobte, Wind und Wellen warfen das Boot hin und her, und ihnen drohte Schiffbruch und Untergang.
Seimin saß oben im Stern des Schiffes, festgezurrt im Ausguck, und starrte auf die tobende See. Da sieht er: Ein mächtiger Brecher kommt genau auf ihr Boot zu. Und Seimin zieht einen Schuh aus und schleudert ihn gegen die Welle, und die Welle weicht zurück und legt sich. Aber schon rollt eine zweite Riesenwelle heran, noch größer als die erste — Seimin zieht den anderen Schuh vom Fuß und schleudert ihn der Welle entgegen, und wieder beruhigt sich die See. Seimin atmet auf, da sieht er eine dritte Welle kommen, nein, keine Welle, eine Wasserwand, sie türmt sich auf bis zum Himmel, und Seimin denkt: Jetzt ist es aus. Dann aber packt er das große Ködermesser — das steckte in dem Sternsitz, wo Seimin saß — und er wirft es mit aller Kraft gegen die Welle. Und so wie sich das Messer ins Wasser bohrt, flaut der Sturm ab, die See wird ruhig und flach wie ein Brett.
So kamen sie heim, durchweicht bis auf die Knochen, sonst aber unversehrt. Am Strand bangten ihre Familien, die hatten bei dem Wetter kaum noch zu hoffen gewagt, Schiff und Mannschaft wiederzusehen. Kein Wunder, dass nun die Freude groß war. Und als das Boot an Land gezogen und der Fang aufgeteilt war, gingen alle nach Hause.
So weit so gut.
Es war dunkel geworden, Seimin saß neben dem Herdfeuer, die Füße behaglich zur Wärme hin ausgestreckt, die Nachbarn waren gekommen, und Seimin erzählte von dem schweren Tag auf See.
Da klopft es an der Tür, eins der Kinder macht auf, draußen vor der Schwelle hält ein Reiter auf einem weißen Pferd. Ob Seimin da sei, fragt er, dann ruft er ihn an die Tür.
„Seimin“, sagt der Fremde, „ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mitkommen würdest und das Messer wieder herausziehst, das du heute meiner Schwester ins Herz geworfen hast!“
Seimin erkennt gleich, was für einen er da vor sich hat. „Es fällt mir gar nicht ein, dieses Haus zu verlassen“, sagt er, „es sei denn, du versprichst mir feierlich, dass mir kein Leid angetan wird, mir nicht, und auch keinem aus meiner Familie, und keinem von meiner Mannschaft!“
„Das verspreche ich“, sagt der Fremde, „und ich verspreche auch, dass du morgen vor Tagesanbruch sicher und wohlbehalten wieder zu Hause sein wirst.“
Da tritt Seimin über die Schwelle hinaus und schwingt sich hinter dem fremden Reiter auf das weiße Pferd. Und dann jagen sie wie der Wind durch die Nacht — Seimin wusste später auch nicht zu sagen, welchen Weg sie genommen hatten, nur dass sie auch übers Meer geritten sein mussten, denn schließlich näherten sie sich von See her dem Roten Strand von Connacht.
Das Pferd preschte auf die Küste zu, über den Strand hinauf zu einem Hügel. Der Hügel öffnet sich vor ihnen, sie reiten hinein und kommen vor ein wunderbares Schloss. Der Fremde springt vom Pferd, er winkt Seimin, ihm zu folgen, und rasch, Seimin hat kaum Zeit, sich umzusehen, führt er ihn in das Schloss hinein und eine breite Treppe hinauf in ein großes Zimmer.
Dort liegt in einem prächtigen Bett ein Mädchen, seltsam schön mit großen Augen, aber totenblass. Sie stöhnt und schreit vor Schmerzen, denn in ihrer Brust, unter ihrem Herzen, steckt ein Ködermesser, Seimins Ködermesser, das er am Vortag gegen die Welle geschleudert hatte.
„Komm, komm her“, ruft das Mädchen, „zieh' dein Messer heraus!“
„Das will ich gern tun“, sagt Seimin, „aber erst musst du versprechen, dass du mir und den Meinen kein Leid antun wirst.“
„Das ist schon versprochen“, stöhnt sie, „zieh endlich das Messer heraus!“
Da tritt Seimin an das Bett und zieht ihr Messer aus der Brust, und gleich ist das Mädchen wieder geheilt.
„Eines möchte ich doch noch wissen“, sagt Seimin. „Warum hast du versucht, mich und meine Männer zu ertränken?“
„Ach, ich habe mich in dich verliebt“, sagt sie, „und ich wollte dich ganz für mich allein!“
„Und deshalb sollten all meine Männer mit mir untergehen?“ „Ja“, sagt sie, „alles, alles würde ich tun, um dich zu bekommen!“
„Na, nun bekommst du mich aber doch nicht“, sagt Seimin, „ich muss jetzt wieder heim.“ Er dreht sich um, geht aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Vor dem Schloss wartet schon der Reiter auf dem weißen Pferd, Seimin sitzt hinter ihm auf, und dann geht's wie im Flug zurück bis zur Schwelle von Seimins Haus.
„Hab' Dank“, sagt der Fremde zum Abschied, „und lebe wohl!“ Dann war er verschwunden, und Seimin sah ihn nie wieder bis zu dem Tag, an dem er starb.
 
Zum Erzählen bearbeitet von Kolja


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